Klimawandel: „Die heutige Größe der Gletscher lässt sich nicht mehr retten“

Blick auf den Glaciar Perito Moreno, Patagonien. (Foto: Matthias Braun)
Foto: Matthias Braun

Dr. Christian Sommer vom Institut für Geographie der FAU wirkte mit an der ersten systematischen Erfassung von Messdaten zum dramatischen Rückgang der Gletscher.

In den letzten 25 Jahren sind in Mitteleuropa rund 39 Prozent des Gletschereises verschwunden: Die Ergebnisse der Glambie-Studie der Europäischen Weltraumorganisation ESA sind dramatisch. Für das Paper sammelten Dr. Christian Sommer, Prof. Dr. Matthias Braun und Dr. Thorsten Seehaus vom Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Satellitendaten von Gletschern in den Alpen, den südamerikanischen Anden und der Arktis. Die Ergebnisse fließen voraussichtlich in den nächsten Weltklimabericht ein.

Herr Dr. Sommer, die Gletscher in Mitteleuropa haben seit dem Jahr 2000 rund 39 Prozent ihres Eises verloren. Die Gletscher schmelzen weltweit immer schneller, durchschnittlich verschwinden 273 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Das klingt dramatisch, haben Sie die Ergebnisse der Glambie-Studie überrascht?

Dr. Christian Sommer: Nein, dass Gletscher so stark schmelzen war bekannt. Das Neue und Wegweisende der Studie ist ihre Methode beziehungsweise die Kombination unterschiedlichster gletscherkundlicher Messungen. Viele kennen wahrscheinlich die regelmäßig erscheinenden Weltklimaberichte der Vereinten Nationen. Der Weltklimarat geht darin auch auf den Rückgang der Gletscher ein. In der Vergangenheit wurden dafür Ergebnisse wissenschaftlicher Publikationen zum Thema Gletscherschmelze zusammengetragen. Messungen aus allen Teilen der Erde wurden gemittelt, um eine Art globalen Durchschnitt zu bekommen. Dabei konnten jedoch keine Unterschiede zwischen den einzelnen Messverfahren berücksichtigt werden, also etwa in welchem Zeitraum, mit welcher Methode und mit welcher Genauigkeit Veränderungen gemessen wurden. Die Glambie-Studie vergleicht erstmals systematisch eine Fülle an Daten, die 35 internationale Forscherteams zugeliefert haben. Unser Ziel war es, verlässlichere Aussagen auf regionaler und globaler Ebene zu treffen. Im nächsten Weltklimabericht werden unsere Ergebnisse aller Voraussicht nach den Status Quo der Gletscherschmelze der letzten zwei Jahrzehnte abbilden.

Sie haben mit ihren Kollegen Daten aus der deutschen Satellitenmission TanDEM-X ausgewertet, um das Volumen von Gletschereis zu bestimmen. Wie muss man sich das vorstellen?

Dr. Christian Sommer: Die Satellitenmission TanDEM-X startete 2010 und wird vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt geleitet. Zwei Satelliten erstellen mit Methoden der Radarinterferometrie ein dreidimensionales Abbild der Erde, ein sogenanntes digitales Modell der Oberflächenhöhe. Diese digitalen Geländemodelle sind vergleichbar mit der Funktion bei Google Maps, wenn man sich die Geländekonturlinien anzeigen lässt. Dahinter steht dieselbe Technik. Wir können aus den Satellitenaufnahmen für jeden Pixel die Geländehöhe ablesen und vergleichen. Weil die Satelliten seit mehr als zehn Jahren wiederholte Aufnahmen der Erdoberfläche machen, kann man beobachten, wie sich die Oberfläche und das Eisvolumen eines Gletschers verändern.

Die Vereinten Nationen haben 2025 zum „Internationalen Jahr zur Erhaltung der Gletscher“ erklärt. Wie stehen die Chancen, dass wir die Eisflächen in den Gebirgen vor dem Verschwinden retten?

Feldforschung am Jungfraujoch, Alpen (Foto: T. Seehaus)
Feldforschung am Jungfraujoch, Alpen (Foto: T. Seehaus)

Dr. Christian Sommer: In den letzten 20 Jahren zeigten erstmals auch sehr hoch gelegene Gletschergebiete wie zum Beispiel im Himalaya, die bisher relativ unbeeindruckt schienen vom Klimawandel, eindeutige Zeichen von starkem Eisverlust. Vor 20 Jahren war das in manchen Gebirgsregionen noch nicht hundertprozentig festzustellen. Wenn das Eis nur wenig schmolz, stellte sich damals noch die Frage, ob sich der Gletscher tatsächlich langfristig veränderte oder ob die Messungen ungenau waren. Seit zehn Jahren beobachten wir allerdings deutliche Schmelzraten in allen Hochgebirgen der Erde. Die Gletscher außerhalb der Polargebiete, die nicht schmelzen, kann man weltweit an ein paar Händen abzählen. Die heutige Größe der Gletscher lässt sich nicht mehr retten, selbst wenn alle Länder augenblicklich auf die Emissionen von Treibhausgasen verzichten würden.

Prognosen sagen, dass zu Ende des Jahrhunderts die Hälfte aller Gletscher verschwunden sein wird. Auch dann, wenn wir das 1,5 Grad-Ziel noch erreichen sollten, was sehr unwahrscheinlich ist.

Dr. Christian Sommer: Ja, damit ist zu rechnen. Der Grund hierfür ist, dass durch die Erderwärmung die Schneegrenze in den Sommermonaten immer weiter nach oben rutscht. Zugleich beobachten wir heute schon in vielen Gebirgen, auch in den Alpen, dass es sozusagen kaum noch hochgelegene und damit kühle „Rückzugsgebiete“ gibt, in denen mehrjähriger Schnee die sommerliche Schmelze überdauert. Wenn man im Hochsommer in die österreichischen Alpen fährt, sieht man beispielsweise, dass viele Gletscher bereits bis in die höchsten Bereiche auftauen. In vergleichsweise niedrigeren Gebirgen wie den Alpen, dem Kaukasus oder auch den Rocky Mountains in Nordamerika ist damit zu rechnen, dass viele Gletscher verschwinden. Einige Gletscher in den Alpen sind bereits in Teile zerbrochen oder komplett geschmolzen. Auch auf der Zugspitze ist ein Gletscher bereits nahezu vollständig verschwunden.

Der Zusammenhang von Klimawandel und Gletscherschmelze ist eindeutig, oder? Ich frage das, weil es ja immer noch Menschen gibt, die das bezweifeln, auch in der Politik.

Dr. Christian Sommer: Die Eisschmelze ist ganz klar die Reaktion der Gletscher auf den Klimawandel. Solange ein Gleichgewicht zwischen den vorhandenen Eismassen der Gletscher und ihrer Umgebungstemperatur besteht, halten sich Eisschmelze im Sommer und Eiszugewinn im Winter die Waage. Der Gletscher ist stabil. Doch dieses Gleichgewicht ist schon seit Jahrzehnten aus den Fugen aufgrund steigender Temperaturen in Gebirgsregionen.

Was sind die Konsequenzen?

Dr. Christian Sommer: Die Meeresspiegel steigen. In der Glambie-Studie zeigen wir, dass die 6542 Milliarden Tonnen Gletschereis, die zwischen 2000 und 2023 abgeschmolzen sind, bereits zu einem Anstieg um 18 Millimeter geführt haben. Ein zweiter wichtiger Faktor sind die Wassermengen, die im Sommer von den Gletschern abfließen. In niederschlagsarmen Regionen wie den nördlichen Anden oder auch Teilen des Himalayas spielt das eine große Rolle. Gletscher wirken wie Puffer – wenn es nach der Schneeschmelze im Frühjahr wenig regnet, fließt im Sommer immer noch ihr Schmelzwasser in die Täler. Aber wenn die Gletscher immer kleiner werden, wird im Tal das Wasser für die Landwirtschaft knapp und auch die Trinkwasserreserven schwinden. In Mitteleuropa ist die Pufferwirkung der Gletscher vor allem wichtig für den Abfluss großer Flüsse im Hochsommer, aber auch für die Erzeugung erneuerbarer Energie aus Wasserkraftwerken, die das ganze Jahr über einen relativ konstanten Zufluss brauchen. Gletscher sind ein Süßwasserspeicher der Natur.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Wissenschaftler in der gesellschaftlichen Debatte über den Klimawandel?

Dr. Christian Sommer: Als Wissenschaftler erforsche ich Gebirgsregionen und beschreibe naturräumliche Veränderungen. Ich will niemanden belehren. Aber ich würde Menschen empfehlen,mit offenen Augen durch die Natur zu gehen. Die Veränderungen der Gletscher sind in den Alpen sogar schon touristisch aufbereitet, an einigen Stellen ist markiert, bis wohin das Eis in der Vergangenheit reichte. Man muss kein Bergsteiger sein, um den Rückgang der Gletscher zu sehen.

Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich aus der Glambie-Studie?

Dr. Christian Sommer: Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, naturräumliche Veränderungen zu beobachten. Die unterschiedlichen Satellitenmissionen, die von den beteiligten Forschungsteams verwendet wurden, sind sehr teuer. Einige der Satelliten sind schon seit vielen Jahren im Weltall und nähern sich wahrscheinlich dem Ende ihrer Lebenszeit. Es muss Nachfolgemissionen geben und wir brauchen ein noch besseres Monitoring naturräumlicher Veränderungen. Momentan können wir in großräumigen Skalen Erwärmung und Gletscherschmelze beobachten. Aber für die genaue Interaktion zwischen Klimawandel und Gletschern bräuchten wir eine höhere zeitliche Auflösung. Für die Menschen in Regionen mit wenig Regen wäre es hilfreich zu wissen, wie stark die Gletscher von Jahr zu Jahr schmelzen. Bisher lässt sich das nur unzureichend beantworten, weil die technischen Voraussetzungen noch nicht geschaffen sind.

Dr. Christian Sommer entdeckte bei seinen Wanderungen durch die Alpen seine Faszination für Gletscher. Aus der persönlichen Leidenschaft für die Eiszungen der Berge ist sein Forschungsschwerpunkt an der FAU geworden. (Foto: Privat)
Dr. Christian Sommer entdeckte bei seinen Wanderungen durch die Alpen seine Faszination für Gletscher. Aus der persönlichen Leidenschaft für die Eiszungen der Berge ist sein Forschungsschwerpunkt an der FAU geworden. (Foto: Privat)

Ein internationales Großprojekt

Für die Studie (Glacier Mass Balance Intercomparison Exercise, kurz Glambie) der Europäischen Weltraumorganisation ESA führten 35 Teams bestehend aus rund 450 Wissenschaftler/-innen aus aller Welt Daten aus Feldmessungen und von optischen, Radar-, Laser- und Gravimetrie-Satellitenmissionen zusammen. Aus den Daten dieser Quellen erstellten die Wissenschaftler/-innen Zeitreihen der Kassenänderungen für alle Gletscherregionen weltweit von 2000 bis 2023. Die Studie fasste 233 Schätzungen der regionalen Gletschermassenänderungen zusammen.

Weitere Informationen:

Kontakt:

Dr. Christian Sommer
Institut für Geographie
Tel.: +49 9131 85-23303
chris.sommer@fau.de