Astroteilchenphysik: Das energiereichste Neutrino

FAU-Forschende beteiligt an der Entdeckung eines rekordverdächtigen Elementarteilchens
Am 13. Februar 2023 registrierte der ARCA-Detektor, Teil des Neutrinoteleskops KM3NeT vor der südöstlichen Küste Siziliens, ein Neutrino mit einer geschätzten Energie von etwa 220 Millionen Milliarden Elektronenvolt (oder kurz 220 PeV) – ein Wert, der bei Neutrinos bis jetzt noch nicht festgestellt wurde. Über die außergewöhnliche Entdeckung aus dem Mittelmeer und ihre Bedeutung berichten nun die Forschenden der KM3NeT-Kollaboration in der Fachzeitschrift Nature. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Erlangen Centre for Astroparticle Physics (ECAP) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) waren maßgeblich an Design und Bau des Experiments sowie der notwendigen Datenanalyse beteiligt.
Das als „KM3-230213A“ bezeichnete Ereignis beschreibt, wie im Februar vor zwei Jahren ein einzelnes Myon den ARCA-Detektor durchquerte. Diese Bewegung wurde von mehr als einem Drittel der aktiven Sensoren dort registriert. Anhand seiner Flugbahn und enormen Energie konnte das KM3NeT-Forschungsteam schließen, dass es sich um ein Myon handelt, das höchstwahrscheinlich von einem kosmischen Neutrino abstammt. Neutrinos gibt es in verschiedenen „Flavors“, Geschmacksrichtungen – abhängig von ihrem geladenen Partnerteilchen: Elektron, Tau oder Myon. Interagieren Neutrinos mit Materie, z.B. Gestein, können sie sich als Reaktion in ihr Gegenstück umwandeln. Das ist vor zwei Jahren in der Nähe des Detektors passiert.
Kosmologische Ereignisse besser verstehen – dank Neutrinos

Wenn im Universum Ereignisse wie Strahlungsausbrüche supermassereicher Schwarzer Löcher, Supernova-Explosionen oder Gammastrahlenausbrüche stattfinden, wirken diese für kosmische Strahlung wie leistungsstarke Beschleuniger. Bei einer Wechselwirkung der Strahlung mit der umgebenden Materie oder der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung, können Neutrinos und hochenergetische Photonen entstehen. Wie etwa KM3-230213A: Das gemessene Neutrino hatte eine etwa 10.000-mal höhere Energie als die Teilchenstrahlen am stärksten Teilchenbeschleuniger der Erde, dem Large Hadron Collider (LHC) der Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) bei Genf. Dabei hat das Neutrino selbst eine verschwindend kleine Masse.
„Wir wissen seit ca. hundert Jahren, dass in unserem Universum Teilchen auf extrem hohe Energien beschleunigt werden, allerdings sind die Quellen dieser Teilchen und die Beschleunigungsmechanismen darin immer noch weitestgehend unbekannt“, erklärt Prof. Dr. Claudio Kopper, Leiter der KM3NeT-Gruppe am ECAP und Inhaber des FAU-Lehrstuhls für Experimentelle Astroteilchenphysik. „Neutrinos erlauben es uns, die Quellen dieser Teilchen zu finden. Außerdem lernen wir, die Prozesse, die solche kosmischen Teilchenbeschleuniger antreiben, zu verstehen, da Neutrinos fast nicht absorbiert werden und daher sehr ,direkte‘ Informationen aus dem Inneren solcher astrophysikalischen Beschleuniger liefern können.“
m Video dargestellt: Visualisierung des Ereignisses KM3-230213A, das vom Neutrinoteleskop KM3NeT am 13. Februar 2023 registriert wurde.
Ereignisenergie sorgt für Rätsel
Da KM3-230213A jedoch ein Einzelfall war, muss das KM3NeT-Team weitere solche Ereignisse nachweisen: „Das Neutrino, das wir nun mit KM3NeT gefunden haben, gibt uns einige Rätsel auf“, sagt Prof. Kopper. „Es hat so eine hohe Energie, viel höher als viele von uns das erwartet hätten. Da es sich bisher nur um ein einziges Neutrino dieses Energielevels aus dieser Richtung am Himmel handelt, ist es derzeit noch schwierig, auf seine Quelle zu schließen. Aber das macht es für uns auch so interessant, denn gerade in der Grundlagenforschung finden wir oft Dinge, die uns überraschen und die zu neuen Entdeckungen führen.“
Zuversichtlich sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch deshalb, weil die Entdeckung vom 13. Februar 2023 mit nur einem Zehntel der geplanten Detektorkonfiguration festgestellt werden konnte. Denn die Installation des KM3NeT-Teleskops ist umfangreich und nicht abgeschlossen. Weitere Sensoren werden in den nächsten Jahren noch verbaut. Wenn KM3NeT komplett installiert ist, wird das Tiefsee-Observatorium mehr als einen Kubikkilometer umfassen.
Das KM3NeT-Teleskop
Im Dezember 2015 begann der Aufbau des KM3NeT-Teleskops. FAU-Astroteilchenphysiker/-innen waren von Anfang an führend am Projekt beteiligt. Beim nun gemessenen Ereignis trugen sie insbesondere zur Visualisierung und der Bereitstellung weiterführender Daten an die wissenschaftliche Gemeinschaft bei.
„Es ist großartig, dass wir schon in derAufbauphase eine solche Beobachtung machen, die uns zeigt, dass wir mit KM3NeT auf dem richtigen Weg sind“, sagt Prof. Uli Katz vom Lehrstuhl für Astroteilchenphysik am ECAP, einer der Gründerväter des KM3NeT-Projekts.
Das Teleskop nutzt Meerwasser sowohl als Detektionsmedium als auch zur Abschirmung von störendend Teilchen der kosmischen Strahlung. Seine optischen Hightech-Sensormodule detektieren das Cherenkov-Licht – ein bläuliches Leuchten, das bei der Bewegung extrem schneller Teilchen erscheint, welche wiederrum durch die Wechselwirkung von Neutrinos im Wasser entstehen.
KM3NeT besteht aus zwei Teilaufbauten: Der ARCA-Detektor – ARCA steht für Astroparticle Research with Cosmics in the Abyss – kommt für die Erforschung hochenergetischer Neutrinos und ihrer Quellen im Universum zum Einsatz. Er befindet sich in 3450 Metern Meerestiefe, etwa 80 Kilometer von der Küste von Portopalo di Capo Passero, Sizilien, entfernt. Sein Partnerstück, der ORCA-Detektor – ORCA steht für Oscillation Research with Cosmics in the Abyss – dient der Untersuchung der grundlegenden Eigenschaften des Neutrinos selbst. Er befindet sich in einer Meerestiefe von 2450 Metern, etwa 40 Kilometer von der Küste von Toulon, Frankreich, entfernt.
Die KM3NeT-Kollaboration vereint aktuell mehr als 360 Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Studenten von fast 70 Institutionen aus mehr als 20 Ländern auf der ganzen Welt.
Weitere Informationen
Prof. Dr. Claudio Kopper
Lehrstuhl für Experimentelle Astroteilchenphysik
claudio.kopper@fau.de
Veröffentlichung: https://www.nature.com/articles/s41586-024-08543-1
The KM3Net Collaboration: Observation of an Ultra-High-Energy Cosmic Neutrino with KM3NeT, Nature, February 12, 2025 (DOI 10.1038/s41586-024-08543-1)